Der Solidaritätszuschlag ist ziemlich in die Jahre gekommen. Fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung verblasst seine politische Begründung zunehmend. Ab 2020 enden die Sonderzahlungen für die neuen Länder im Bund-Länder-Finanzausgleich. Da mag es politisch an der Zeit sein, ihn abzuschaffen.
Verfassungsrechtlich ist das aber keineswegs zwingend – jedenfalls, wenn man sich an der alten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ergänzungsabgabe orientiert, die dem Gesetzgeber einen weitgehenden Beurteilungsspielraum einräumt. Dringende Gründe für eine Änderung dieser Judikatur gibt es nicht, auch wenn sich viele bemühen, diese herbeizuschreiben. [...]
Caroline Stiel, who works at the Firms and Markets department, has successfully defended her dissertation at the Technische Universität Berlin.
The dissertation with the title "German Public Utilities: Organisation and Productivity" was supervised by Prof. Dr. Tomaso Duso (Technische Universität Berlin, DIW Berlin) und Dr. Astrid Cullmann (Technische Universität Berlin, DIW Berlin).
We congratulate Caroline on her success and wish her all the best for her future career.
Stimmverluste der Volksparteien – wie zuletzt bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen – werden in der öffentlichen Debatte häufig als Indizien einer tiefen politischen Spaltung der Gesellschaft bewertet. Dabei wird argumentiert, dass die Wählerschaft immer weniger mit den am breiten Konsens orientierten Volksparteien anfangen könne, da sie in ihren Werten und Interessen zu stark polarisiert sei. Aber wie stark unterscheiden sich die Wählergruppen tatsächlich in ihren grundlegenden Einstellungen, etwa im Hinblick auf ihre Gerechtigkeitsvorstellungen? Auf Grundlage von Daten aus dem Jahr 2018 wurde überprüft, welche Gerechtigkeitsprofile für die WählerInnen deutscher Parteien jeweils charakteristisch sind. Dabei zeigen sich einerseits Unterschiede: Zum Beispiel lehnen WählerInnen der Unionsparteien das Gleichheitsprinzip – also die gleiche Verteilung von Gütern und Lasten auf alle – besonders deutlich ab. UnterstützerInnen der Linken stehen dem positiver gegenüber. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten: Die Verteilung nach dem Leistungsprinzip wird über alle Parteigrenzen hinweg als gerecht empfunden. Auch die Forderung, dass allen Menschen entsprechend des Bedarfsprinzips ein minimaler Lebensstandard zugesichert werden sollte, wird breit unterstützt.
von Konstantin Kholodilin, Jan Philip Weber und Steffen Sebastian
Die Regulierung der Wohnmietmärkte ist aus dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken, in Deutschland wie auch in fast allen übrigen Ländern. Die Verwerfungen an den Immobilienmärkten im vergangenen Jahrzehnt haben die gesellschaftlichen Debatten hierzu befeuert. Mieterbewegungen weltweit fordern eine Verschärfung der Regulierung und führen die Bezahlbarkeit von Wohnraum als ein zentrales Bürgerrecht ins Feld. Regulierungsskeptiker fürchten hingegen die Beeinträchtigung der Marktmechanismen durch überbordende Regulierung. Wissenschaftliche Analysen zu dieser Thematik scheiterten bislang häufig an einer unzureichenden Datenbasis. Die vorliegende Studie nimmt sich dieser Problematik an und präsentiert einen einmaligen Datensatz, über den sich die Regulierung der Mietmärkte quantitativ abbilden lässt. Die Indizes zur Messung der Regulierungsintensität liegen für 64 Länder vor und reichen mehr als 100 Jahre zurück. Der im Internet frei verfügbare Datensatz bietet damit die Möglichkeit, die Regulierungsintensitäten und -regime ländervergleichend zu untersuchen. So zeigt sich etwa, dass Deutschland im europäischen Vergleich eine relativ intensive Mietpreiskontrolle hat, die seit 2015 noch verschärft wurde. Die Auswirkungen dieser Verschärfung sollten in Zukunft durch weitere Analysen begleitet werden.
Zu den Ergebnissen des Bankenstresstests und den Folgen für die Bankenlandschaft äußert sich Dorothea Schäfer, Forschungsdirektorin für Finanzmärkte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), wie folgt:
Der diesjährige Bankenstresstest hat für keine substantielle Aufhellung am europäischen Bankenhimmel gesorgt. Die Unsicherheit über die Tragfähigkeit der Geschäftsmodelle vieler europäischer Großbanken bleibt – das gilt auch für einige deutsche Banken, auch wenn sie insgesamt mit einem blauen Auge davongekommen sind. Dennoch hat die Finanzkrise tiefe Spuren hinterlassen. Ein Sorgenkind bleibt die Deutsche Bank, die im Stresstest nur mittelmäßig abgeschnitten hat. Das schlimmste Stressszenario beinhaltete für Deutschland einen Wachstumseinbruch von 3,3 Prozent bis 2020, eine Arbeitslosenquote zwischen gut vier und gut sechs Prozent, eine Inflationsrate zwischen 1,5 und 0,3 Prozent und einen dramatischen Einbruch der Immobilienpreise um insgesamt mehr als 17 Prozent bis zum Jahr 2020. Unter allen deutschen Banken schmilzt der risikogewichtete Eigenkapitalpuffer der NordLB im Maximalstressszenario am stärksten. Die gerade zum Verkauf stehende Landesbank schafft nur etwas über sieben Prozent harte Kernkapitalquote und damit eine eher schwache Marke. Besser stehen die potentiellen Fusionspartner der NordLB, die Helaba und die LBBW, da. Ein Zusammenschluss von schwächeren und stärkeren Landesbanken würde dem Bankensektor insgesamt gut tun. Auf europäischer Ebene fallen vor allem die italienischen Banken ins Auge, die erneut nicht sonderlich gut abgeschnitten haben. Die schwache Wirtschaftsentwicklung in Italien macht den Banken weiter zu schaffen und erschwert den Abbau der Berge an notleidenden Krediten in den Büchern. Die Europäische Union muss für dieses drängende Problem schnell eine Lösung finden. Im Sog der Zinsaufschläge für italienische Staatsanleihen kommen auf die italienischen Banken höhere Finanzierungskosten und damit schlechtere Gewinnaussichten zu. Das sind keine guten Vorzeichen für den Aufbau von robusten Eigenkapitalpuffern und für ein gutes Abschneiden beim nächsten Stresstest.Im Oktober weist das Konjunkturbarometer des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) für das dritte Quartal einen Indexstand von 104 Punkten auf – geringfügig weniger als für das zweite Quartal, in dem die deutsche Wirtschaft um knapp ein halbes Prozent gegenüber dem Vorquartal zulegen konnte. Für das Schlussquartal steigt der Index auf 107 Punkte an. „Zuletzt fielen wichtige Konjunktursignale enttäuschend aus – Produktion und Bestellungen in der Industrie sinken, die Unternehmensstimmung trübt sich ein. Die Konjunktur in Deutschland bricht aber nicht ein. Sie nähert sich vielmehr allmählich einer Normalauslastung der gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten an“, kommentiert DIW-Konjunkturchef Claus Michelsen die aktuelle Entwicklung. Das Konjunkturbarometer signalisiert ein solides Wachstum von knapp 0,4 Prozent für das dritte und sogar von 0,6 Prozent für das vierte Quartal 2018.
Seit dem Jahr 2011 sind über fünf Millionen Zuwanderer aus anderen EU-Ländern nach Deutschland eingewandert – DIW-Simulation zeigt, dass diese Zuwanderung das BIP-Wachstum um durchschnittlich 0,2 Prozentpunkte pro Jahr erhöht hat – Es muss mehr für qualifikationsgerechte Erwerbschancen getan werden, zum Beispiel über bessere Anerkennung ausländischer Abschlüsse
Die Zuwanderung aus anderen Ländern der EU hat das BIP-Wachstum Deutschlands in den Jahren 2011 bis 2016 um durchschnittlich 0,2 Prozentpunkte pro Jahr verstärkt – für einzelne Jahre wie zum Beispiel 2015, den Höhepunkt der EU-Zuwanderung, sogar um mehr (0,3 Prozentpunkte). Die Besetzung von Stellen durch Zuwanderer erhöht die gesamtwirtschaftliche Beschäftigung und führt zu einer zusätzlichen Konsumnachfrage. Sie vermeidet zudem Engpässe auf dem Arbeitsmarkt, die zu höheren Produktionskosten und höheren Preisen geführt und das Wachstum entsprechend reduziert hätten. Das haben der Konjunkturforscher Marius Clemens vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und seine Koautorin Janine Hart von der Universität Potsdam in einer neuen Studie herausgefunden.
Herr Clemens, wie viele Menschen sind in den letzten Jahren insgesamt nach Deutschland eingewandert und wie viele davon stammen aus Europa?
Seit 2011 sind gut neun Millionen Zuwanderer aus der ganzen Welt nach Deutschland gekommen, davon knapp über die Hälfte aus der EU. Sehr viele davon kommen aus den osteuropäischen Ländern und einige aus Südeuropa, also Italien, Spanien und Griechenland. [...]
Die Europäische Kommission hat den Haushaltsentwurf der italienischen Regierung abgelehnt – ein Novum in der Geschichte der EU. Nun hat die Regierung bis Mitte November Zeit nachzubessern. Dass dies geschieht und die EU-Kommission den Haushalt anschließend genehmigen kann, ist angesichts der verhärteten Fronten zwischen Brüssel und Rom alles andere als sicher. Sollte kein Kompromiss gefunden werden und die italienische Regierung den vorliegenden Plan in der bestehenden Form umsetzen, könnte sich die EU-Kommission in letzter Instanz genötigt sehen, ein Defizitverfahren gegen Italien zu eröffnen. Daraus resultierende Sanktionen würden die Kosten des Haushaltsstreits für die italienischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler weiter in die Höhe treiben. Schon jetzt sind die Zinsen auf italienische Staatsanleihen gestiegen. Zudem dürfte sich die Unsicherheit an den Finanzmärkten mit Blick auf die Stabilität in Europa weiter erhöhen. [...]
Die EU-Kommission hat den Haushaltsentwurf Italiens abgelehnt. DIW-Konjunkturökonom Stefan Gebauer gibt eine Einschätzung, wie sich der Haushaltsstreit lösen lassen kann. Er betont, dass die wirtschaftlichen Probleme Italiens struktureller Natur seien – und die EU bei ihrer Kritik nicht nur auf die Höhe der geplanten Neuverschuldung schauen, sondern auch berücksichtigen sollte, ob mit den vorgesehenen Maßnahmen Wirtschaftswachstum in Italien generiert werden kann.
Zur Mitarbeiterseite von Stefan Gebauer
Aleksandra Peeva, has successfully defended her dissertation at the Humboldt-Universität zu Berlin.
The dissertation with the title "Political Goals, Economic Constraints: Explaining the Motivation and Effects of Economic Sanctions" was supervised by Prof. Marcel Fratzscher, Ph.D. (DIW Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin) and Prof. Dr. Nikolaus Wolf (Humboldt-Universität zu Berlin).
We congratulate Aleksandra on her success and wish her all the best for her future career!
Wir wollen gesünder leben, geben beim Einkauf aber süßen Verlockungen nach. Wir müssten, sorgen aber nur unzureichend finanziell für das Alter vor. Unser ökonomisches Verhalten ist inkonsistent, kontextabhängig, geprägt von Heuristiken, Verzerrungen, wie Altersaversion, Gegenwartspräferenz, Daumenregeln, sozialen Normen. Dies lehrt uns die Verhaltensökonomik. Ihr Instrument dagegen sind „Nudges – sanfte Stupser“. Damit sollen die Menschen zu ihrem Wohl minimalintensiv beeinflusst werden, ohne ihre Optionen einzuschränken.
In dem Vierteljahrsheft werden kontroverse Aspekte von Nudges diskutiert: Ethische Merkmale und das Menschenbild des Konzepts werden unterschiedlich beurteilt. Legitime Nudges sollten zumindest nicht einschränken, nicht manipulieren, transparent kommuniziert werden. Das fortlaufende Lernen neuer Präferenzen wird als ein Gegenentwurf formuliert. Begründet wird, warum Nudging in Unternehmen nicht paternalistisch sei. Vertreten wird, Nudges wirkten beschleunigend als „behavioural spin“, seien aber rekonfigurierte konventionelle Instrumente. Berichtet wird über die internationale Etablierung des Politikkonzepts durch Institutionalisierung. Vorteile von Global Nudges werden unterbreitet, die als ergänzende Instrumente bei Entscheidungen über globale öffentliche Güter (Klimawandel, Finanzmarkt) eingesetzt werden könnten.
Inhalt der Ausgabe 1/2018:
Jana Friedrichsen, Kornelia Hagen und Lilo Wagner
Stupsen und Schubsen (Nudging): Ein neues verhaltensbasiertes Regulierungskonzept?
Ludger Heidbrink und Andrea Klonschinski
Nudges, Transparenz und Autonomie – Eine normativ gehaltvolle Kategorisierung von Maßnahmen des Nudgings
Malte F. Dold und Christian Schubert
Wohin nudgen? Zum Menschenbild des Libertären Paternalismus
Kathrin Loer und Alexander Leipold
Varianten des Nudgings? Verhaltenswissenschaften und ihr Einfluss auf politische Instrumente
Rebecca C. Ruehle
Unterschiede in der ethischen Bewertung staatlichen und unternehmerischen Nudgings
Holger Straßheim und Rebecca-Lea Korinek
Welten der Verhaltenspolitik: Nudging im inter- und transnationalen Vergleich
Andreas Friedl, Felix Gelhaar, Patrick Ring und Christoph Schütt
Global Nudging als Politikkonzept zur Bewältigung globaler Herausforderungen
Lena Detlefsen und Menusch Khadjavi
Akzeptanz und Effektivität kognitiver und moralischer Nudges
Corinna Michel und Julius Schneider
Soziale Normen als Instrument des Nudgings: Ein Experiment
Beate Gebhardt
Nachhaltigkeitsawards – Ein politisches Instrument der individuellen Verhaltensbeeinflussung?
Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 1/2018
Neue Ideen könnten dafür sorgen, dass der Mindestlohn endlich eingehalten wird.
Seit 2015 gibt es den gesetzlichen Mindestlohn – zumindest theoretisch. Denn in der Praxis erhalten ihn nach wie vor viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht. Das Ausmaß der Verstöße gegen das Mindestlohngesetz ist immens. Wie eine Studie des DIW Berlin gezeigt hat, lag im Jahr 2016 der Lohn von etwa 1,8 Millionen Personen unter der damals gültigen Untergrenze von 8,50 Euro. Vor einigen Wochen hat der Zoll erstmalig eine bundesweite Kontrolle zur Aufklärung von Mindestlohnverstößen durchgeführt. Doch lässt sich der Betrug auf diese Weise verhindern oder zumindest eindämmen? Nur die Anzahl der Kontrollen zu erhöhen, scheint jedenfalls nicht auszureichen. Denn die dafür zuständige Behörde, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls, ist für die Kontrolle von mehr als zwei Millionen Betrieben mit über 30 Millionen Beschäftigten zuständig. Dafür stehen derzeit nur 6800 Beamtinnen und Beamte zur Verfügung, die parallel noch ganz andere Delikte aufklären müssen. Das kann kaum funktionieren.
Nötig sind also weitergehende Maßnahmen - und da wären durchaus auch innovative Ansätze denkbar. Da ist zunächst die Arbeitszeiterfassung, das Einfallstor für Umgehungsstrategien. In der Praxis gibt es mit Blick auf die aufzuzeichnende Arbeitszeit eine Reihe von Problemen, beispielsweise wenn für Taxifahrer Wartezeiten als Pausen statt als Arbeitszeit abgerechnet werden - entgegen der aktuellen Rechtsprechung. Nicht selten sind Angestellte zudem nachsichtig, wenn der Arbeitgeber sagt, er könne sie sonst nicht bezahlen. Oder sie akzeptieren einen niedrigeren Lohn beziehungsweise arbeiten für den gleichen Lohn mehr, um einer Kürzung anderer Bezüge zu entgehen.
Eine lückenlose Dokumentation der Arbeitszeiten ist die Voraussetzung für einfache und effiziente Kontrollen. Zwar gibt es immer wieder Stimmen, denen zufolge dies die Wirtschaft in unzumutbarem Ausmaß belasten würde. Aber ist es nicht plausibel anzunehmen, dass Arbeitszeiten sowieso festgehalten werden, ob aus Versicherungsgründen oder zur internen Kostenkalkulation? Und wie stichhaltig ist dieses Argument im digitalen Zeitalter?
So bietet etwa die Smartphone-App des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Möglichkeit, die eigenen Arbeitszeiten selbständig festzuhalten und diese direkt per Mail an den Arbeitgeber zu schicken. Die Arbeitszeitkonten, die man beispielsweise durch Kollegen oder den Vorgesetzten gegenzeichnen lassen kann, können im Fall der Fälle vor Gericht sogar als Beweis herangezogen werden. Daher wird das selbständige Führen solcher Stundenaufzeichnungen auch von Gewerkschaften empfohlen. Nun muss es darum gehen, diese Möglichkeiten bekannter und zum obligatorischen Vorgehen zu machen.
Ein zweites mögliches Handlungsfeld sind Anreize für Unternehmen, sich aus eigenem Antrieb korrekt zu verhalten. In Großbritannien werden beispielsweise schwarze Listen mit Unternehmen veröffentlicht, die den Mindestlohn umgehen. Dieser potenzielle Ansehensverlust soll Arbeitgeber davon abhalten, die Lohnuntergrenze zu unterlaufen. Die Frage ist aber, ob tatsächlich so viele Firmen überhaupt gegen den Mindestlohn verstoßen wollen. Vermutlich nicht, denn weil der Mindestlohn in Deutschland eine sehr hohe gesellschaftliche Unterstützung genießt (85 bis 90 Prozent der Bevölkerung finden den Mindestlohn gut), wird es auch viele Unternehmerinnen und Unternehmer geben, die den Mindestlohn gerne zahlen würden. Das Problem ist nur: Wenn die Konkurrenz anderer Meinung ist und den Mindestlohn umgeht, um Lohnkosten zu sparen, entsteht ein Wettbewerbsnachteil für die gesetzeskonform handelnden Firmen.
Um das gesetzeskonforme Verhalten zu unterstützen, könnte man daher eine weiße Liste mit Firmen einführen, die sich freiwillig und vollständig dazu bereit erklären, einem Kontrollorgan ihre Buchhaltung und ihre Arbeitszeiten vorzulegen sowie bestätigende Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zuzulassen. Für ein Unternehmen, das sich regelmäßig kontrollieren lässt, sollen dadurch klare Wettbewerbsvorteile entstehen. Zum Beispiel sollten nur diese Unternehmen an der öffentlichen Auftragsvergabe teilnehmen können. Gleichzeitig muss für alle Beteiligten klar erkennbar sein, dass Unternehmen diese Mindeststandards einhalten. Denkbar wäre eine Plakette, die beispielsweise ein Restaurant an der Tür platzieren kann, oder mit der es auf der Homepage werben kann, um zu signalisieren, dass es faire Löhne an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zahlt. Idealerweise würde sogar bei Online- Vergleichsportalen angezeigt werden, welche Restaurants diese Plakette besitzen. Mit entsprechender Werbung erhielte die Plakette Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und gesellschaftliches Ansehen. Neben dem schon bekannten “Fair Trade”-Siegel gäbe es dann eben auch eine “Fair Pay”-Plakette.
Vor dem Hintergrund der breiten gesellschaftlichen Unterstützung für den Mindestlohn wird es vielen nicht egal sein, ob ihre Kellnerin oder ihr Kellner fair bezahlt wird oder nicht. Und gerade in der Gastronomiebranche sind Mindestlohnverstöße weit verbreitet. Studien haben zudem gezeigt, dass Kunden bereit sind, höhere Preise für Produkte mit vergleichbaren “Bio”- oder “Fair Trade”-Siegeln zu zahlen. Bei gleichem Effekt für die “Fair Pay”-Plakette könnten die höheren Lohnkosten auf diesem Wege ausgeglichen werden. Das Ganze hätte natürlich auch seine Kosten, weil eine freiwillige Zertifizierung ebenfalls Ressourcen benötigt. Nur wird sie per Definition weniger Aufwand für die Kontrollorgane als die jetzigen Zollkontrollen bereiten, denn Unternehmen werden freiwillig und eigenhändig ein Unterlagenpaket für die Zertifizierung vorbereiten müssen.
Möchte man alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen schützen, wie vom Mindestlohngesetz ursprünglich vorgesehen, sollten solche Maßnahmen diskutiert und in Erwägung gezogen werden. Es liegt im gemeinsamen Interesse von Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Unternehmen, dass das Mindestlohngesetz nicht der zahnlose Tiger bleibt, das es derzeit noch ist. Eine “Fair Pay”-Plakette könnte die entsprechenden Anreize schaffen, dass am Ende alle Gruppen profitieren.
Der Gastbeitrag von Alexandra Fedorets und Mattis Beckmannshagen ist am 21. Oktober 2018 bei der Süddeutschen Zeitung erschienen.