Der World Fair Trade Day am 9. Mai stellte die Fortschritte der Mitgliederorganisationen der World Fair Trade Organization (WFTO) heraus. Er erinnerte aber auch an die sozialen Missstände, die in vielen globalen Lieferketten bestehen, das heißt bei Akteuren, die an der Herstellung eines Produkts beteiligt sind, von der Rohstoffgewinnung bis zu dessen eigentlicher Produktion und dem Vertrieb. In vielen Lieferketten kommt es zu Verletzungen von Arbeits- und Sozialstandards, etwa in Form von Kinderarbeit, mangelhafter Arbeitssicherheit oder fehlender Vereinigungsfreiheit. Die COVID-19 Pandemie lässt diese Missstände deutlich zutage treten und verstärkt sie: Die negativen Folgen des Nachfragerückgangs sowie Fabrikschließungen in Folge von Stilllegungen treffen die Arbeiter*innen in den Produktionsländern des Globalen Südens besonders hart. Arbeitsrechtsorganisationen und Gewerkschaften aus dem Bekleidungssektor in Bangladesch berichten von Massenentlassungen und Fabrikschließungen. Der Verband der Bekleidungshersteller in Indien geht davon aus, dass 2,5 Millionen Menschen ihren Job während des Lockdowns verlieren und die Asian Floor Wage Alliance berichtet, dass Arbeiter*innen ihre Löhne vorenthalten werden. Für Menschen ohne finanzielle Rücklagen sind diese Umstände existenzbedrohend.
Aktuell verstärkt die Coronakrise soziale Missstände in vielen globalen Lieferketten. Kurzfristig gilt es, besonders betroffenen Ländern den Zugang zu Krediten zu erleichtern und Geldtransfers an bedürftige Bevölkerungsgruppen sicherzustellen. Wie aber können mittel- und langfristig angelegte politische Maßnahmen aussehen, die nicht nur die Symptome mildern, sondern auch ihre Ursachen angehen und somit Lieferketten, auch mit Blick auf künftige Krisen, fairer und widerstandsfähiger machen?
Alle Unternehmen entlang globaler Lieferketten müssen Verantwortung für die soziale Situation der Arbeiter*innen übernehmen. Diese Verantwortung darf nicht an nationalen Grenzen enden. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, zeigt der Versuch von vielen Bekleidungsmarken, darunter Burton Menswear in Europa oder das große australische Modeunternehmen Mosaic Brands, bereits produzierte Waren nicht mehr abzunehmen, Zahlungen zu verzögern und Rabatte für bereits laufende Aufträge auszuhandeln. Regierungen des Globalen Nordens sind dazu aufgerufen zu einem verantwortlichen Handeln von Unternehmen beizutragen. Sowohl durch Anreize, wie einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung, als auch durch Verpflichtungen, wie die rechtliche Verankerung unternehmerischer Sorgfaltspflichten.
Eine Anpassung der öffentlichen Beschaffung, die in Europa rund 14 Prozent des BIP generiert, kann entscheidende Anreize für einen nachhaltigen und sozialverantwortlichen Wiederaufbau globaler Lieferketten setzen. Eine strategisch ausgerichtete öffentliche Beschaffung ist die Voraussetzung für ein tieferes Verständnis von Lieferketten und Warenströmen auf Seiten der öffentlichen Beschaffer*innen und somit für ein sicheres und verantwortliches öffentliches Beschaffungswesen. Der Aufbau eines strategischen öffentlichen Beschaffungsmanagements wird seit längerem von der Europäischen Kommission und der OECD gefordert. Es beinhaltet erstens organisatorische Komponenten, wie die Stärkung von Vergabestellen durch strategische Einkäufer*innen. Zweitens gilt es, strategische Beschaffungsziele wie die Förderung innovativer oder nachhaltiger Produkte festzulegen. Die aktuelle Debatte bietet öffentlichen Einrichtungen in Deutschland und Europa die Möglichkeit, ihr Beschaffungswesen krisenfester zu machen, sowohl mit Blick auf eine sichere Versorgung als auch hinsichtlich einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern.
Diese gibt es in verschiedener Form bereits in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden. In Deutschland wurde eine gesetzliche Regelung von der freiwilligen Verpflichtung zu unternehmerischer Sorgfalt abhängig gemacht. Bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass eine breite Umsetzung erfolgt ist. Eine gesetzliche Regelung könnte dazu beitragen, auf allen Stufen der Lieferkette soziale und ökologische Mindeststandards zu garantieren, gerade auch bei Zulieferern in Entwicklungs- und Schwellenländern. Die Vielzahl der Unternehmen die jetzt oder bereits schon seit Jahren Verantwortung zeigen, würden durch die Schaffung gleicher Bedingungen für alle Marktteilnehmer gestärkt. Eine Verpflichtung müsste eine Balance zwischen Verantwortung und Umsetzbarkeit finden. Unternehmen sollen nicht für jede Arbeitsrechtsverletzung zur Verantwortung gezogen werden, aber grundsätzlich soziale Risiken in ihren Lieferketten identifizieren und bewerten, um gegebenenfalls Verbesserungen zu erwirken. Eine so gestärkte Reform des Lieferkettenmanagements würde zu größerer Verantwortlichkeit und Krisenfestigkeit in Lieferketten beitragen.
Angesichts der COVID-19 Pandemie versuchen Regierungen aktuell, in erster Linie lebenswichtige nationale Bedarfe sicherzustellen. Mit der Entspannung der gesundheitlichen Krise, gilt es den Fokus anzupassen: Ein Wiedererstarken der Weltwirtschaft sollte mit mehr Verantwortung für faire Bedingungen entlang globaler Lieferketten einhergehen.
Dieser Text ist Teil einer Sonderreihe unseres Formats Die aktuelle Kolumne, die die Folgen der Corona-Krise entwicklungspolitisch und sozioökonomisch einordnet. Sie finden die weiteren Texte hier auf unserer Überblicksseite.
Der World Fair Trade Day am 9. Mai stellte die Fortschritte der Mitgliederorganisationen der World Fair Trade Organization (WFTO) heraus. Er erinnerte aber auch an die sozialen Missstände, die in vielen globalen Lieferketten bestehen, das heißt bei Akteuren, die an der Herstellung eines Produkts beteiligt sind, von der Rohstoffgewinnung bis zu dessen eigentlicher Produktion und dem Vertrieb. In vielen Lieferketten kommt es zu Verletzungen von Arbeits- und Sozialstandards, etwa in Form von Kinderarbeit, mangelhafter Arbeitssicherheit oder fehlender Vereinigungsfreiheit. Die COVID-19 Pandemie lässt diese Missstände deutlich zutage treten und verstärkt sie: Die negativen Folgen des Nachfragerückgangs sowie Fabrikschließungen in Folge von Stilllegungen treffen die Arbeiter*innen in den Produktionsländern des Globalen Südens besonders hart. Arbeitsrechtsorganisationen und Gewerkschaften aus dem Bekleidungssektor in Bangladesch berichten von Massenentlassungen und Fabrikschließungen. Der Verband der Bekleidungshersteller in Indien geht davon aus, dass 2,5 Millionen Menschen ihren Job während des Lockdowns verlieren und die Asian Floor Wage Alliance berichtet, dass Arbeiter*innen ihre Löhne vorenthalten werden. Für Menschen ohne finanzielle Rücklagen sind diese Umstände existenzbedrohend.
Aktuell verstärkt die Coronakrise soziale Missstände in vielen globalen Lieferketten. Kurzfristig gilt es, besonders betroffenen Ländern den Zugang zu Krediten zu erleichtern und Geldtransfers an bedürftige Bevölkerungsgruppen sicherzustellen. Wie aber können mittel- und langfristig angelegte politische Maßnahmen aussehen, die nicht nur die Symptome mildern, sondern auch ihre Ursachen angehen und somit Lieferketten, auch mit Blick auf künftige Krisen, fairer und widerstandsfähiger machen?
Alle Unternehmen entlang globaler Lieferketten müssen Verantwortung für die soziale Situation der Arbeiter*innen übernehmen. Diese Verantwortung darf nicht an nationalen Grenzen enden. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, zeigt der Versuch von vielen Bekleidungsmarken, darunter Burton Menswear in Europa oder das große australische Modeunternehmen Mosaic Brands, bereits produzierte Waren nicht mehr abzunehmen, Zahlungen zu verzögern und Rabatte für bereits laufende Aufträge auszuhandeln. Regierungen des Globalen Nordens sind dazu aufgerufen zu einem verantwortlichen Handeln von Unternehmen beizutragen. Sowohl durch Anreize, wie einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung, als auch durch Verpflichtungen, wie die rechtliche Verankerung unternehmerischer Sorgfaltspflichten.
Eine Anpassung der öffentlichen Beschaffung, die in Europa rund 14 Prozent des BIP generiert, kann entscheidende Anreize für einen nachhaltigen und sozialverantwortlichen Wiederaufbau globaler Lieferketten setzen. Eine strategisch ausgerichtete öffentliche Beschaffung ist die Voraussetzung für ein tieferes Verständnis von Lieferketten und Warenströmen auf Seiten der öffentlichen Beschaffer*innen und somit für ein sicheres und verantwortliches öffentliches Beschaffungswesen. Der Aufbau eines strategischen öffentlichen Beschaffungsmanagements wird seit längerem von der Europäischen Kommission und der OECD gefordert. Es beinhaltet erstens organisatorische Komponenten, wie die Stärkung von Vergabestellen durch strategische Einkäufer*innen. Zweitens gilt es, strategische Beschaffungsziele wie die Förderung innovativer oder nachhaltiger Produkte festzulegen. Die aktuelle Debatte bietet öffentlichen Einrichtungen in Deutschland und Europa die Möglichkeit, ihr Beschaffungswesen krisenfester zu machen, sowohl mit Blick auf eine sichere Versorgung als auch hinsichtlich einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern.
Diese gibt es in verschiedener Form bereits in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden. In Deutschland wurde eine gesetzliche Regelung von der freiwilligen Verpflichtung zu unternehmerischer Sorgfalt abhängig gemacht. Bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass eine breite Umsetzung erfolgt ist. Eine gesetzliche Regelung könnte dazu beitragen, auf allen Stufen der Lieferkette soziale und ökologische Mindeststandards zu garantieren, gerade auch bei Zulieferern in Entwicklungs- und Schwellenländern. Die Vielzahl der Unternehmen die jetzt oder bereits schon seit Jahren Verantwortung zeigen, würden durch die Schaffung gleicher Bedingungen für alle Marktteilnehmer gestärkt. Eine Verpflichtung müsste eine Balance zwischen Verantwortung und Umsetzbarkeit finden. Unternehmen sollen nicht für jede Arbeitsrechtsverletzung zur Verantwortung gezogen werden, aber grundsätzlich soziale Risiken in ihren Lieferketten identifizieren und bewerten, um gegebenenfalls Verbesserungen zu erwirken. Eine so gestärkte Reform des Lieferkettenmanagements würde zu größerer Verantwortlichkeit und Krisenfestigkeit in Lieferketten beitragen.
Angesichts der COVID-19 Pandemie versuchen Regierungen aktuell, in erster Linie lebenswichtige nationale Bedarfe sicherzustellen. Mit der Entspannung der gesundheitlichen Krise, gilt es den Fokus anzupassen: Ein Wiedererstarken der Weltwirtschaft sollte mit mehr Verantwortung für faire Bedingungen entlang globaler Lieferketten einhergehen.
Dieser Text ist Teil einer Sonderreihe unseres Formats Die aktuelle Kolumne, die die Folgen der Corona-Krise entwicklungspolitisch und sozioökonomisch einordnet. Sie finden die weiteren Texte hier auf unserer Überblicksseite.
Die Corona-Pandemie und die politischen Entscheidungen zu ihrer Eindämmung verändern derzeit die Situation vieler Erwerbstätiger in Deutschland. Viele abhängig Beschäftigte arbeiten im Homeoffice, befinden sich in Kurzarbeit, fürchten um ihren Job oder haben diesen bereits verloren. Selbständige verzeichnen Umsatz- und Gewinneinbußen und sehen sich in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht. Erwerbstätige mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen sind besonders belastet, da Betreuungs- und Pflegedienste weggebrochen sind. Damit ist offensichtlich: Vor dem Virus sind nicht alle gleich. Und mit den ungleichen ökonomischen und alltäglichen Lebenssituationen entstehen und wachsen auch die Sorgen in unterschiedlicher Weise. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass einzelne Bevölkerungsgruppen die Krise leichter bewältigen werden als andere.
Epidemien geben Aufschluss darüber, wie Gesellschaften mit marginalisierten Gruppen umgehen. Ganz besonders deutlich zeigt es sich in der größten Hafenstadt Ecuadors, in Guayaquil. Das Corona-Virus überfordert das Gesundheitssystem dort offenbar gänzlich. Viele Menschen können nicht mehr behandelt werden. Hunderte von Opfern konnten zeitweilig nicht mehr bestattet werden. Es kursieren Zahlen von tausenden von Toten in den Medien. Verlässliche Informationen fehlen aber bisher. Guayaquil ist eine Warnung: Die Marginalisierung einzelner Gruppen kann eine gesamte Gesellschaft zu Fall bringen. Es gibt aber auch eine Lösungsrichtung vor: Mehr Zugang zu Ressourcen.
Epidemien mit vielen Opfern gibt es in Guayaquil seit Jahrhunderten immer wieder. Die ungleichen Besitzverhältnisse und eine andauernde Marginalisierung großer Bevölkerungsgruppen spielen dabei eine zentrale Rolle. Um sie nicht nur, aber auch in medizinischen Notsituationen besser schützen zu können, müssen Ressourcen gerechter verteilt, Zugänge zu Grundversorgungen garantiert und Machtstrukturen überdacht werden.
Guayaquil wurde jahrhundertelang durch wenige einflussreiche Familien regiert. Oft dachten diese eher an ihren eigenen Vorteil als an ein gesellschaftliches Gemeinwohl. In den letzten Jahrzehnten gab es zwar durchaus erfolgreiche Projekte, etwa im Kampf gegen Kriminalität oder in der Verbesserung der urbanen Infrastruktur. Dennoch bleibt der Zugang zu ökonomischen Ressourcen, zur Basisversorgung und zum urbanen Raum sehr ungleich verteilt. Bereits in der Kolonialzeit regte sich in Guayaquil dagegen passiver Widerstand. Viele Jahrhunderte lang galt die Hafenstadt als Schmuggler-Hochburg. Früher wurde Kakao geschmuggelt, heute Lebensmittel, Treibstoff, Hehlerware und Drogen. Man spricht in Guayaquil stolz von der „viveza criolla“, einer vermeintlichen Anpassungsstrategie in Lateinamerika. Sie steht für das „Zurechtkommen“ in Phasen des Mangels, in politischen oder ökonomischen Krisen. Man weiß sich zu helfen, auch auf Kosten anderer, weil es oft nicht genug für alle gibt. Dies ist eine Einstellung, die sich interessanterweise durch alle Bevölkerungsschichten zieht. Die „Anderen“ sind in Guayaquil etwa die herrschenden Eliten, die politischen Machthaber, aber auch immer wieder die Bürokraten in der Hauptstadt Quito. So wird lokal gedacht, in Konkurrenz zueinander. Und selbst eine Notlage wie die Corona-Pandemie wird politisch in Szene gesetzt und zum eigenen Vorteil genutzt.
In Guayaquil lebt der weitaus größte Teil der knapp 3 Millionen Einwohner*innen beengt in den städtischen Randgebieten. Dort sind die Gesundheitseinrichtungen spärlich und überlaufen, es gibt oft nur ungenügende Abwasserversorgung, keinen ausreichenden Zugang zu Trinkwasser. Die Luftverschmutzung ist hoch. Seit einigen Jahren gibt es Metrobuslinien, die die Randgebiete mit dem Zentrum verbinden, aber die Busse sind überfüllt. Viele Bewohner*innen der Randgebiete arbeiten im Zentrum, in der Service-Infrastruktur der reicheren Stadtteile oder im informellen Sektor. Die fehlenden finanziellen Rücklagen und der mangelnde Raum in den Vorstädten erlauben es nicht zu Hause zu bleiben – trotz Ausgangssperren. Soziale Distanzierung ist kaum möglich. Staatlich-getragene Sozialabsicherung existiert nicht. Diese Notlage verschärft sich seit Jahren, auch durch unkontrollierte Zuwanderung aus dem benachbarten Venezuela. Ganze Viertel sind in Guayaquil durch Schmugglerbanden und Kriminalität gezeichnet. Die Polizei und andere Behörden sind nicht selten in illegale Machenschaften verwickelt oder gänzlich machtlos. Die Bevölkerung hat kein Vertrauen in die Institutionen oder kann die Regeln schlicht nicht befolgen. So können Maßnahmen zur Viruseindämmung nicht zügig und zielgerichtet getroffen werden. Testkapazitäten sind nicht vorhanden. Und auch Kontrollen und Sanktionen sind nicht umsetzbar.
Der Fall Guayaquil führt uns vor Augen, dass die Marginalisierung großer Teile der Gesellschaft eben diese Gesellschaft als Einheit destabilisiert. Marginalisierte Menschen stecken sich mit größerer Wahrscheinlichkeit an. Durch gesundheitliche Belastungen wie Umweltverschmutzung oder Vorerkrankungen sind schwere Krankheitsverläufe häufiger. Durch die Überlastung des Gesundheitssystems sterben Patienten nicht nur am Virus, sondern auch an der medizinischen Unterversorgung. Epidemien sind viel schwerer beherrschbar.
Starre Machtstrukturen verhindern bisher ein Überdenken des Status quo. In Guayaquil sehnt man sich in lokalen Medien nach einem „starken Mann“ wie Vicente Rocafuerte. Der machte sich 1842 als Gouverneur durch sein beherztes Eingreifen in der Gelbfieber-Epidemie in Guayaquil einen Namen an den man sich gerade heute wieder erinnert. Genau das Gegenteil wird aber wohl langfristig erfolgreich sein. Die ungleiche Verteilung von Ressourcen in Guayaquil spiegelt Jahrhunderte globaler, einseitiger Wirtschaftsstrategien wider. Vereinzelte entwicklungspolitische Projekte und Kredite werden die so entstandenen Abhängigkeiten kaum lösen. Ein tiefgreifendes Umdenken hin zu gesellschaftlichem Gemeinwohl und ausgeglichenerem Zugang zu Ressourcen könnte der globalen Staatengemeinschaft aber trotzdem nützen. So ist jede Gemeinschaft nur so stark, wie ihr schwächstes Mitglied. Dies verdeutlicht Guayaquil und formuliert es als Anspruch an unsere Weltgesellschaft.
Anne-Katrin Broocks ist Doktorandin am Leibniz Zentrum für Marine Tropenforschung in Bremen und ist vor wenigen Wochen von ihrer 8-monatigen Feldforschung aus Guayaquil, Ecuador, zurückgekehrt. Sie beschäftigt sich aus wissenssoziologischer Perspektive mit der Frage, wie Mangroven im Golf von Guayaquil vom 19. Jahrhundert bis heute Bedeutung zugeschrieben wurde, und wie dadurch die Nutzung von Mangrovengebieten beeinflusst wird. In ihrer Arbeit wird sie von Anna-Katharina Hornidge betreut.
Anna-Katharina Hornidge ist Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) und zugleich Professorin für Globale Nachhaltige Entwicklung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Dieser Text ist Teil einer Sonderreihe unseres Formats Die aktuelle Kolumne, die die Folgen der Corona-Krise entwicklungspolitisch und sozioökonomisch einordnet. Sie finden die weiteren Texte hier auf unserer Überblicksseite.
Epidemien geben Aufschluss darüber, wie Gesellschaften mit marginalisierten Gruppen umgehen. Ganz besonders deutlich zeigt es sich in der größten Hafenstadt Ecuadors, in Guayaquil. Das Corona-Virus überfordert das Gesundheitssystem dort offenbar gänzlich. Viele Menschen können nicht mehr behandelt werden. Hunderte von Opfern konnten zeitweilig nicht mehr bestattet werden. Es kursieren Zahlen von tausenden von Toten in den Medien. Verlässliche Informationen fehlen aber bisher. Guayaquil ist eine Warnung: Die Marginalisierung einzelner Gruppen kann eine gesamte Gesellschaft zu Fall bringen. Es gibt aber auch eine Lösungsrichtung vor: Mehr Zugang zu Ressourcen.
Epidemien mit vielen Opfern gibt es in Guayaquil seit Jahrhunderten immer wieder. Die ungleichen Besitzverhältnisse und eine andauernde Marginalisierung großer Bevölkerungsgruppen spielen dabei eine zentrale Rolle. Um sie nicht nur, aber auch in medizinischen Notsituationen besser schützen zu können, müssen Ressourcen gerechter verteilt, Zugänge zu Grundversorgungen garantiert und Machtstrukturen überdacht werden.
Guayaquil wurde jahrhundertelang durch wenige einflussreiche Familien regiert. Oft dachten diese eher an ihren eigenen Vorteil als an ein gesellschaftliches Gemeinwohl. In den letzten Jahrzehnten gab es zwar durchaus erfolgreiche Projekte, etwa im Kampf gegen Kriminalität oder in der Verbesserung der urbanen Infrastruktur. Dennoch bleibt der Zugang zu ökonomischen Ressourcen, zur Basisversorgung und zum urbanen Raum sehr ungleich verteilt. Bereits in der Kolonialzeit regte sich in Guayaquil dagegen passiver Widerstand. Viele Jahrhunderte lang galt die Hafenstadt als Schmuggler-Hochburg. Früher wurde Kakao geschmuggelt, heute Lebensmittel, Treibstoff, Hehlerware und Drogen. Man spricht in Guayaquil stolz von der „viveza criolla“, einer vermeintlichen Anpassungsstrategie in Lateinamerika. Sie steht für das „Zurechtkommen“ in Phasen des Mangels, in politischen oder ökonomischen Krisen. Man weiß sich zu helfen, auch auf Kosten anderer, weil es oft nicht genug für alle gibt. Dies ist eine Einstellung, die sich interessanterweise durch alle Bevölkerungsschichten zieht. Die „Anderen“ sind in Guayaquil etwa die herrschenden Eliten, die politischen Machthaber, aber auch immer wieder die Bürokraten in der Hauptstadt Quito. So wird lokal gedacht, in Konkurrenz zueinander. Und selbst eine Notlage wie die Corona-Pandemie wird politisch in Szene gesetzt und zum eigenen Vorteil genutzt.
In Guayaquil lebt der weitaus größte Teil der knapp 3 Millionen Einwohner*innen beengt in den städtischen Randgebieten. Dort sind die Gesundheitseinrichtungen spärlich und überlaufen, es gibt oft nur ungenügende Abwasserversorgung, keinen ausreichenden Zugang zu Trinkwasser. Die Luftverschmutzung ist hoch. Seit einigen Jahren gibt es Metrobuslinien, die die Randgebiete mit dem Zentrum verbinden, aber die Busse sind überfüllt. Viele Bewohner*innen der Randgebiete arbeiten im Zentrum, in der Service-Infrastruktur der reicheren Stadtteile oder im informellen Sektor. Die fehlenden finanziellen Rücklagen und der mangelnde Raum in den Vorstädten erlauben es nicht zu Hause zu bleiben – trotz Ausgangssperren. Soziale Distanzierung ist kaum möglich. Staatlich-getragene Sozialabsicherung existiert nicht. Diese Notlage verschärft sich seit Jahren, auch durch unkontrollierte Zuwanderung aus dem benachbarten Venezuela. Ganze Viertel sind in Guayaquil durch Schmugglerbanden und Kriminalität gezeichnet. Die Polizei und andere Behörden sind nicht selten in illegale Machenschaften verwickelt oder gänzlich machtlos. Die Bevölkerung hat kein Vertrauen in die Institutionen oder kann die Regeln schlicht nicht befolgen. So können Maßnahmen zur Viruseindämmung nicht zügig und zielgerichtet getroffen werden. Testkapazitäten sind nicht vorhanden. Und auch Kontrollen und Sanktionen sind nicht umsetzbar.
Der Fall Guayaquil führt uns vor Augen, dass die Marginalisierung großer Teile der Gesellschaft eben diese Gesellschaft als Einheit destabilisiert. Marginalisierte Menschen stecken sich mit größerer Wahrscheinlichkeit an. Durch gesundheitliche Belastungen wie Umweltverschmutzung oder Vorerkrankungen sind schwere Krankheitsverläufe häufiger. Durch die Überlastung des Gesundheitssystems sterben Patienten nicht nur am Virus, sondern auch an der medizinischen Unterversorgung. Epidemien sind viel schwerer beherrschbar.
Starre Machtstrukturen verhindern bisher ein Überdenken des Status quo. In Guayaquil sehnt man sich in lokalen Medien nach einem „starken Mann“ wie Vicente Rocafuerte. Der machte sich 1842 als Gouverneur durch sein beherztes Eingreifen in der Gelbfieber-Epidemie in Guayaquil einen Namen an den man sich gerade heute wieder erinnert. Genau das Gegenteil wird aber wohl langfristig erfolgreich sein. Die ungleiche Verteilung von Ressourcen in Guayaquil spiegelt Jahrhunderte globaler, einseitiger Wirtschaftsstrategien wider. Vereinzelte entwicklungspolitische Projekte und Kredite werden die so entstandenen Abhängigkeiten kaum lösen. Ein tiefgreifendes Umdenken hin zu gesellschaftlichem Gemeinwohl und ausgeglichenerem Zugang zu Ressourcen könnte der globalen Staatengemeinschaft aber trotzdem nützen. So ist jede Gemeinschaft nur so stark, wie ihr schwächstes Mitglied. Dies verdeutlicht Guayaquil und formuliert es als Anspruch an unsere Weltgesellschaft.
Anne-Katrin Broocks ist Doktorandin am Leibniz Zentrum für Marine Tropenforschung in Bremen und ist vor wenigen Wochen von ihrer 8-monatigen Feldforschung aus Guayaquil, Ecuador, zurückgekehrt. Sie beschäftigt sich aus wissenssoziologischer Perspektive mit der Frage, wie Mangroven im Golf von Guayaquil vom 19. Jahrhundert bis heute Bedeutung zugeschrieben wurde, und wie dadurch die Nutzung von Mangrovengebieten beeinflusst wird. In ihrer Arbeit wird sie von Anna-Katharina Hornidge betreut.
Anna-Katharina Hornidge ist Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) und zugleich Professorin für Globale Nachhaltige Entwicklung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Dieser Text ist Teil einer Sonderreihe unseres Formats Die aktuelle Kolumne, die die Folgen der Corona-Krise entwicklungspolitisch und sozioökonomisch einordnet. Sie finden die weiteren Texte hier auf unserer Überblicksseite.
Epidemien geben Aufschluss darüber, wie Gesellschaften mit marginalisierten Gruppen umgehen. Ganz besonders deutlich zeigt es sich in der größten Hafenstadt Ecuadors, in Guayaquil. Das Corona-Virus überfordert das Gesundheitssystem dort offenbar gänzlich. Viele Menschen können nicht mehr behandelt werden. Hunderte von Opfern konnten zeitweilig nicht mehr bestattet werden. Es kursieren Zahlen von tausenden von Toten in den Medien. Verlässliche Informationen fehlen aber bisher. Guayaquil ist eine Warnung: Die Marginalisierung einzelner Gruppen kann eine gesamte Gesellschaft zu Fall bringen. Es gibt aber auch eine Lösungsrichtung vor: Mehr Zugang zu Ressourcen.
Epidemien mit vielen Opfern gibt es in Guayaquil seit Jahrhunderten immer wieder. Die ungleichen Besitzverhältnisse und eine andauernde Marginalisierung großer Bevölkerungsgruppen spielen dabei eine zentrale Rolle. Um sie nicht nur, aber auch in medizinischen Notsituationen besser schützen zu können, müssen Ressourcen gerechter verteilt, Zugänge zu Grundversorgungen garantiert und Machtstrukturen überdacht werden.
Guayaquil wurde jahrhundertelang durch wenige einflussreiche Familien regiert. Oft dachten diese eher an ihren eigenen Vorteil als an ein gesellschaftliches Gemeinwohl. In den letzten Jahrzehnten gab es zwar durchaus erfolgreiche Projekte, etwa im Kampf gegen Kriminalität oder in der Verbesserung der urbanen Infrastruktur. Dennoch bleibt der Zugang zu ökonomischen Ressourcen, zur Basisversorgung und zum urbanen Raum sehr ungleich verteilt. Bereits in der Kolonialzeit regte sich in Guayaquil dagegen passiver Widerstand. Viele Jahrhunderte lang galt die Hafenstadt als Schmuggler-Hochburg. Früher wurde Kakao geschmuggelt, heute Lebensmittel, Treibstoff, Hehlerware und Drogen. Man spricht in Guayaquil stolz von der „viveza criolla“, einer vermeintlichen Anpassungsstrategie in Lateinamerika. Sie steht für das „Zurechtkommen“ in Phasen des Mangels, in politischen oder ökonomischen Krisen. Man weiß sich zu helfen, auch auf Kosten anderer, weil es oft nicht genug für alle gibt. Dies ist eine Einstellung, die sich interessanterweise durch alle Bevölkerungsschichten zieht. Die „Anderen“ sind in Guayaquil etwa die herrschenden Eliten, die politischen Machthaber, aber auch immer wieder die Bürokraten in der Hauptstadt Quito. So wird lokal gedacht, in Konkurrenz zueinander. Und selbst eine Notlage wie die Corona-Pandemie wird politisch in Szene gesetzt und zum eigenen Vorteil genutzt.
In Guayaquil lebt der weitaus größte Teil der knapp 3 Millionen Einwohner*innen beengt in den städtischen Randgebieten. Dort sind die Gesundheitseinrichtungen spärlich und überlaufen, es gibt oft nur ungenügende Abwasserversorgung, keinen ausreichenden Zugang zu Trinkwasser. Die Luftverschmutzung ist hoch. Seit einigen Jahren gibt es Metrobuslinien, die die Randgebiete mit dem Zentrum verbinden, aber die Busse sind überfüllt. Viele Bewohner*innen der Randgebiete arbeiten im Zentrum, in der Service-Infrastruktur der reicheren Stadtteile oder im informellen Sektor. Die fehlenden finanziellen Rücklagen und der mangelnde Raum in den Vorstädten erlauben es nicht zu Hause zu bleiben – trotz Ausgangssperren. Soziale Distanzierung ist kaum möglich. Staatlich-getragene Sozialabsicherung existiert nicht. Diese Notlage verschärft sich seit Jahren, auch durch unkontrollierte Zuwanderung aus dem benachbarten Venezuela. Ganze Viertel sind in Guayaquil durch Schmugglerbanden und Kriminalität gezeichnet. Die Polizei und andere Behörden sind nicht selten in illegale Machenschaften verwickelt oder gänzlich machtlos. Die Bevölkerung hat kein Vertrauen in die Institutionen oder kann die Regeln schlicht nicht befolgen. So können Maßnahmen zur Viruseindämmung nicht zügig und zielgerichtet getroffen werden. Testkapazitäten sind nicht vorhanden. Und auch Kontrollen und Sanktionen sind nicht umsetzbar.
Der Fall Guayaquil führt uns vor Augen, dass die Marginalisierung großer Teile der Gesellschaft eben diese Gesellschaft als Einheit destabilisiert. Marginalisierte Menschen stecken sich mit größerer Wahrscheinlichkeit an. Durch gesundheitliche Belastungen wie Umweltverschmutzung oder Vorerkrankungen sind schwere Krankheitsverläufe häufiger. Durch die Überlastung des Gesundheitssystems sterben Patienten nicht nur am Virus, sondern auch an der medizinischen Unterversorgung. Epidemien sind viel schwerer beherrschbar.
Starre Machtstrukturen verhindern bisher ein Überdenken des Status quo. In Guayaquil sehnt man sich in lokalen Medien nach einem „starken Mann“ wie Vicente Rocafuerte. Der machte sich 1842 als Gouverneur durch sein beherztes Eingreifen in der Gelbfieber-Epidemie in Guayaquil einen Namen an den man sich gerade heute wieder erinnert. Genau das Gegenteil wird aber wohl langfristig erfolgreich sein. Die ungleiche Verteilung von Ressourcen in Guayaquil spiegelt Jahrhunderte globaler, einseitiger Wirtschaftsstrategien wider. Vereinzelte entwicklungspolitische Projekte und Kredite werden die so entstandenen Abhängigkeiten kaum lösen. Ein tiefgreifendes Umdenken hin zu gesellschaftlichem Gemeinwohl und ausgeglichenerem Zugang zu Ressourcen könnte der globalen Staatengemeinschaft aber trotzdem nützen. So ist jede Gemeinschaft nur so stark, wie ihr schwächstes Mitglied. Dies verdeutlicht Guayaquil und formuliert es als Anspruch an unsere Weltgesellschaft.
Anne-Katrin Broocks ist Doktorandin am Leibniz Zentrum für Marine Tropenforschung in Bremen und ist vor wenigen Wochen von ihrer 8-monatigen Feldforschung aus Guayaquil, Ecuador, zurückgekehrt. Sie beschäftigt sich aus wissenssoziologischer Perspektive mit der Frage, wie Mangroven im Golf von Guayaquil vom 19. Jahrhundert bis heute Bedeutung zugeschrieben wurde, und wie dadurch die Nutzung von Mangrovengebieten beeinflusst wird. In ihrer Arbeit wird sie von Anna-Katharina Hornidge betreut.
Anna-Katharina Hornidge ist Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) und zugleich Professorin für Globale Nachhaltige Entwicklung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Dieser Text ist Teil einer Sonderreihe unseres Formats Die aktuelle Kolumne, die die Folgen der Corona-Krise entwicklungspolitisch und sozioökonomisch einordnet. Sie finden die weiteren Texte hier auf unserer Überblicksseite.
Fünf ÖkonomInnen aus Wirtschaftsforschungsinstituten und Hochschulen, darunter C. Katharina Spieß vom DIW Berlin, haben Vorschläge für ein nachhaltiges Investitionsprogramm vorgelegt. Die zentralen Empfehlungen für den Bereich der Bildungsinvestitionen fasst Spieß, Leiterin der Abteilung Bildung und Familie am DIW Berlin, wie folgt zusammen:
This blog post analyses the response of the French government to the Coronavirus pandemic. The piece highlights how the semi-presidential system in France facilitates centralized decisions to manage the crisis. From a political-institutional perspective, it is considered that there were no major challenges to the use of unilateral powers by the Executive to address the health crisis, although the de-confinement phase and socio-economic consequences opens the possibility for more conflictual and opposing reactions. At first, approvals of the president and prime minister raised, but the strict confinement and the reopening measures can be challenging in one of the European countries with the highest number of deaths, where massive street protests, incarnated by the Yellow vests movement, have recently shaken the political scene.